Deutschlands Furcht vor dem EGMRi


Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren

 

Jutta Hermanns und Helmut Pollähne


 

Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins mit gleichen Rechten ausgestattet und diese egalitär begründeten Rechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind. Es sind Rechte, die jeder Mensch dem Staat gegenüber aktiv einfordern kann. Ihre Gewährung stellt kein Almosen staatlicher Macht an die Untertanen dar, sondern sie verpflichten die Staaten – auch aus Gründen eigener Machtlegitimierung – zur aktiven Umsetzung dieser Rechte jedes Einzelnen ohne Wenn und Aber.


 

Menschenrechte erfüllen ihren Sinn, wenn ihre Anwendung und Durchsetzung in der Praxis – insbesondere auch in Zeiten von Krisen und Konflikten – gewährleistet und justiziabel sind und sie sich in lebendiger Durchdringung mit gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Realität permanent weiterentwickeln. Die Fortentwicklung von Menschenrechten entsprechend der Notwendigkeiten einer sich ständig ändernden Welt und zu beobachtender neuer Herausforderungen stellt ein Kernelement ihres Zwecks dar: Menschen in ihrem Menschsein zu schützen.


 

Rassismus, Diskriminierung und Mauerbau um Europa


 

Wir leben in einer Zeit, in der sich Europa – Hand in Hand mit verbrecherischen Staaten wie z.B. der Türkei an der EU-Außengrenze – gegen Menschen abschottet, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten und nach einem Leben in Sicherheit und Würde für sich und ihre Kinder suchen. Sie finden einen Rassismus voller Verachtung in der Mitte der weißen deutschen Gesellschaft, eine eklatante Zunahme von Gewalt, Verletzungen, Beschimpfungen und Beleidigungen gegen Menschen nicht weißer Hautfarbe, brennende Flüchtlingsheime und eine Bürokratie, die dem Begriff ›Schreibtischtäter‹ alle Ehre macht. Zugleich befinden sich die europäischen Regierungen scheinbar in einem Wettlauf um den ersten Platz beim Abbau erkämpfter Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte sowie gerne und viel beschworener ›europäischer Werte‹. Die zeitgleichen Zugewinne faschistisch-rechter Parteien sind besorgniserregend.

Aber auch die andere Seite der Gesellschaft wird sichtbarer – diejenigen, die ihr Menschsein, ihre Vernunft und Ihren Verstand nicht bei der kleinsten Herausforderung an den Nagel hängen, die ›Refugees Welcome‹ schreiben und in einem selten dagewesenen Ausmaß ehrenamtlich gesellschaftliche Hilfe mobilisieren, die empört und wütend sind über die Politik des Abschottens und des Heuchelns der Politiker, Lobbyisten, Rassisten und Kriegsgewinnler. Die Durchsetzung der Menschenrechte ist auch ein Mittel, die Zivilgesellschaft in ihrem Engagement zu stärken. Die Prinzipien der Gleichheit und der Gleichbehandlung (›Nicht-Diskriminierung‹) sind fundamentale Elemente des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das Menschenrecht auf Diskriminierungsfreiheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und justiziabel zu machen, sind zwei der Hintergründe und Ziele des 12. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (12. ZP zur EMRK).ii


 

Das 12. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention

Die EMRK ist eines der wichtigsten völkerrechtlichen Dokumente überhaupt. Entstanden angesichts der schrecklichen Erfahrungen von Nationalsozialismus, Faschismus, Völkermord und Krieg, legt sie einen europäischen Menschenrechtsstandard fest, der nie wieder unterschritten werden soll.

Die dringende Notwendigkeit für die Schaffung eines allgemeinen und justiziablen europäischen Diskriminierungsverbots war seit 1960 im Bereich der ›Gleichstellung von Frau und Mann‹ und sodann seit Anfang der 1990er Jahre in Anbetracht eines eklatanten Wiederauflebens von Rassismus, Intoleranz und Antisemitismus und damit einhergehender erniedrigender Behandlung sowie verbundener diskriminierender Praktiken in ganz Europa von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI), vom Lenkungsausschuss für die Gleichstellung von Frauen und Männern (CDEG) sowie vom Lenkungsausschuss für Menschenrechte (CDDH) eindringlich angemahnt worden.iii

Unter dem Eindruck der andauernden Probleme mit Rassismus in Europa wurde die Empfehlung im Europarat aufgegriffen und führte am 04.11.2000 zur Verabschiedung des 12. ZP zur EMRK, welches am 01.04.2005 in Kraft trat, nachdem die geforderte Mindestzahl von zehn Mitgliedsstaaten das ZP ratifiziert und damit zu geltendem Recht in ihrem Hoheitsbereich gemacht hatten. Das 12. ZP zur EMRK statuiert ein allgemeines und umfassendes Diskriminierungsverbot. Es hebt die Einschränkung des Art 14. EMRK auf, dessen Diskriminierungsverbot lediglich akzessorisch im Verhältnis zur EMRK steht.

So war es vor der Verabschiedung des 12. ZP nur dann möglich, eine Diskriminierung zu rügen, wenn sie in Zusammenhang mit der Verletzung eines anderen in der Konvention und ihrer weiteren Zusatzprotokolle garantierten Rechts stand – wie z.B. dem Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, faires Verfahren, Familie etc.


 

Durch das 12. ZP ist ein dermaßen akzessorischer Zusammenhang nun nicht mehr notwendig. Es heißt in Artikel 1:

  1. Der Genuss eines jeden gesetzlich niedergelegten Rechtes ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.

  2. Niemand darf von einer Behörde diskriminiert werden, insbesondere nicht aus einem der in Absatz 1 genannten Gründe.


 

Justiziabel und individuell durchsetzbar sind die Rechte aus dem 12. ZP jedoch nur in den Staaten, die das 12. ZP ratifiziert haben. Aber: Deutschland gehört bis heute nicht zu den ratifizierenden Staaten! Es drängt sich somit die Frage auf, warum große europäische Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland, aber auch Frankreich, das Vereinigte Königreich (England/Wales), Österreich, die Schweiz, Schweden und Norwegen, die im Bereich der Menschenrechte so viel auf sich halten und auch gerne einmal als leuchtendes Beispiel mit erhobenem Zeigefinger weltweit vorangehen, die Zustände in ihrem Land ungern einer Überprüfung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Bereich Diskriminierungsverbot unterzogen sehen wollen. Anders ein kleines Land wie Bosnien-Herzegowina, das das 12. ZP ratifiziert hat und bereits am 15.07.2014 wegen Verletzung desselben durch den EGMR verurteilt wurdeiv. Die Verurteilung erfolgte, da der beschwerdeführenden Staatsbürgerin nach dem geltenden Verfassungs- und Wahlrecht des Landes das passive Wahlrecht zum Parlament und zur Präsidentschaft des Landes ausschließlich deswegen versagt wurde, da sie sich nicht ausdrücklich zu einer der drei sog. ›konstituierenden Volksgruppen‹ (Bosnier, Serben, Kroaten) bekennt.


 

Gründe für die Nicht-Ratifizierung Deutschlands


 

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland führt zur Begründung der Nicht-Ratifizierung dieses selbst mit geschaffenen Menschenrechtsinstruments an, die deutsche Rechtsordnung verbiete gem. Art. 3 GG jede Art Diskriminierung bereits umfassend genug. Hinzu komme das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006, so dass die Ratifizierung des 12. ZP »keine unmittelbaren Rechtsfolgen für die deutsche Rechtsordnung auslösen werde«. Das BVerfG biete zudem ausreichende Garantien zur Einhaltung jeglicher Art von Diskriminierungsverbot.

Die Formulierung, der Artikel des 12. ZP könne durch den EGMR womöglich »dahingehend ausgelegt werden, dass Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit, die in Deutschland verfassungskonform sowohl im Arbeits- und Arbeitsgenehmigungsrecht als auch insbesondere im Ausländer- und Asylrecht vorgenommen werden, nicht mehr zulässig wären«. Man halte diese in Deutschland existierenden Differenzierungen zwar für mit dem 12. ZP vereinbar. Da es jedoch noch keine hinreichende Rechtsprechung des EGMR zur Auslegung des 12. ZP gebe, könne eine andere Auslegungspraxis nicht ausgeschlossen werden. Daher solle zunächst die weitere Entwicklung beobachtet und abgewartet werden.v


Womöglich können aber auch ganz andere Situationen einer Überprüfung durch den EGMR unterzogen werden: Gesundheitsversorgung, Unterbringung, Bildungsmöglichkeiten und Bewegungsfreiheit für Geflüchtete, faktischer Ausschluss von Roma und Sinti, erniedrigende Behandlung auf Ämtern oder auch Unterlassung eines jeglichen Handelns durch die Behörden, der Ausschluss von Flüchtlingskindern von ›deutschen‹ Spielplätzen oder männlicher Asylbewerber von öffentlichen Schwimmbädern etc.

ECRI und der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) drängen in ihren Staatenberichten zur Situation in Deutschland seit Jahren auf eine Ratifizierung des 12. ZP. Im ECRI-Staatenbericht zu Deutschland vom 5. Dezember 2013, veröffentlicht am 25. Februar 2014, heißt es:

»Da jede Diskriminierung wegen der Gründe, die vom Mandat von ECRI abgedeckt sind, durch Artikel 3 des Grundgesetzes (GG) und durch das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) verboten ist, sollte Deutschland keine Überprüfung durch den EGMR in diesem Bereich fürchten. ECRI fordert daher Deutschland auf, ein Beispiel auf internationaler Ebene zu setzen und das Protokoll Nr. 12 zu ratifizieren«.vi


Eines Rechtsstaats unwürdig


 

Mit der oben dargelegten Begründung der Bundesregierung für die Nichtratifizierung des 12. ZP kann letztendlich jede Ratifizierung internationaler und europäischer Menschenrechtsabkommen unterbleiben. Dieses Begründungsmuster läuft darauf hinaus, dass sich Staaten justiziablen Menschenrechtsabkommen nur dann unterwerfen, wenn die daraus resultierenden Verpflichtungen dem jeweiligen Nationalstaat – in diesem Fall Deutschland – genehm sind. Es besteht offenbar keine Bereitschaft, etwaige Missstände im eigenen Land zu überdenken und den Erfordernissen der unterzeichneten Abkommen anzupassen.

Ein Rechtsstaat, der Vorbehalte gegenüber Menschenrechtsabkommen sowie der Justiziabilität derselben durch die hierfür geschaffenen Gerichte – wie dem EGMR – im Hinblick auf liebgewonnene nationale Besonderheiten äußert, widersetzt sich dem grundlegenden Prinzip, dass egalitär begründete Menschenrechte universell, unveräußerlich und unteilbar sind. Alle Nationalstaaten könnten so zu ihrer eigenen – jeweils nationalen Besonderheiten entsprechenden – Auslegung und Handhabung dieser Rechte zurückkehren: Das kann die deutsche Regierung nicht ernsthaft wollen. Die Bundesrepublik Deutschland hat z.B. das Individualbeschwerderecht zum CERD im Hinblick auf die Auslegung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung anerkannt. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland jedoch durch CERD wegen der Verletzung des Übereinkommens im Fall Sarrazin gerügt worden warvii, verwies die Regierung sogleich darauf, dass den Kontrollausschüssen der VN nur Vorschlags- und Empfehlungskompetenzen übertragen worden seien; rechtlich bindende Entscheidungen – so wie der EGMR könnten sie nicht erlassen.viii


Unbehagen vor einer eventuell für Deutschland bindenden Rechtsprechung des EGMR und daraus resultierenden notwendigen Veränderungen in der Praxis in Bezug auf das 12. ZP zu äußern, ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Umso mehr, wenn dieser Staat die konsequente Einhaltung menschenrechtlicher Abkommen und der hierzu ergangenen Rechtsprechung der entsprechenden Gerichte durch andere Staaten immer wieder vehement einfordert. So sollte an die Stelle der Furcht doch eher die Einsicht in die möglicherweise große Chance rücken: durch die Existenz eines Individualbeschwerderechts zum EGMR im Hinblick auf ein umfassendes Diskriminierungsverbot könnten gerade die Kräfte gestärkt werden, die in Zeiten des um sich greifenden Rassismus so dringend gebraucht werden.


 

(veröffentlicht in: Informationsbrief Nr. 112 2016, RAV e.V., April 2016)

i Der Schwerpunkt des Artikels liegt auf Diskriminierungssituationen aus rassistischen Gründen.

ii Council of Europe, European Treaty Series – No. 177: Explanatory Report to the Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights und Fundamental Freedoms, 04.11.2000, Anm. 1, 3, 7, 14.

iii Ebd., Anm. 2, 6.

iv http://hudoc.echr.coe.int: CASE OF ZORNIĆ v. BOSNIA AND HERZEGOVINA (Application no. 3681/06)

v BT-Drs. 16/6314, S. 9; BT-Drs. 16/11603, S. 6.

vi ECRI-Bericht über Deutschland,CRI(2014)2 Version allemande German version, Anm. I, 1 (3): https://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/Country-by-country/Germany/DEU-CbC-V-2014-002-DEU.pdf.

vii Entscheidung vom 04.04.2013, Communication Nr. 48/2010, siehe: http://www2.ohchr.org/english/bodies/cerd/jurisprudence.htm.

viii DAV, Anwaltsblatt 2/2014, DAV-Forum Menschenrechte, S. 169.

 

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